Reden: 30 Jahre friedliche Revolution – das ungeliebte Wunder?

Hier können Sie die Redetexte des für den 16.11.2019 geplanten Kongresses »30 Jahre friedliche Revolution – das ungeliebte Wunder? Zeitzeugen und Bürgerrechtler berichten« nachlesen.
[tabs title=”Redner” type=””][tab title=”Erika Steinbach”]
In diesen Wochen haben wir landauf-, landab zahllose Reden gehört, die die friedliche Revolution aus der Mitte der DDR-Bürger in unterschiedlicher Tonalität beschrieben, belobigten oder zu je eigenen, tagespolitischen Zwecken instrumentalisierten.

Jeder im Lande hat seine höchst persönliche Erinnerung an diesen
9. November 1989 und die darauffolgenden Monate bis zur Wiedervereinigung.
Auch ich.
Den Mauerfall am 9. November habe ich in der Abgelegenheit eines Dorfes in den Kärntner Bergen schlichtweg verpasst. Erst am darauffolgenden Tage drang die Nachricht bis zu mir durch. Ich war fassungslos vor Freude. Ein Traum, von dem ich gewiss war, ihn selbst niemals mehr zu erleben, war Wirklichkeit geworden.
Alles, was an Zeitungen zu kriegen war, kaufte ich zusammen und verschlang begierig die Berichte. Bereits da wurde mir klar, dass es in Westdeutschland durchaus nicht nur ungeteilte, reine Freude an diesem historischen Ereignis gab.
Zurückgekehrt nach Deutschland, durch kilometerlange Trabi-Kolonnen, stieß ich auf eine aufgewühlte, zumeist euphorische Stimmung.
Unübersehbar war aber auch die Skepsis, ja Enttäuschung vieler Linker, die ihre idealisierte, dauerhafte deutsche Zweistaatlichkeit zerrinnen sahen.

Wir Frankfurter Kommunalpolitiker der CDU, der ich damals überzeugt angehörte, wollten vor Ort hautnah erspüren, was unsere Landsleute bewegte und machten uns im Januar 1990 auf den Weg nach Leipzig.
Beim Übertritt in die nun nahezu frei zugängliche DDR bemühte sich der DDR-Grenzbeamte um ein Lächeln, dem man ansah, dass es für ihn ungewohnt, da bislang verboten war.
Seine Mimik war erstarrt im jahrelangen, menschenfernen Dienste eines menschenfeindlichen Regimes.

In Leipzig hatten wir Kontakt mit Bürgerrechtlern und Pfarrer Eppelmann.
Für mich das bis heute Bewegendste aber war die Teilnahme an der Montagsdemonstration.
Immer, wenn wir die Stasi-Behörde am Wegesrand passierten, erhob sich ein emotionales Raunen. Bis zum Gottesdienst konnten wir uns geraume Zeit in der Nikolai-Kirche sammeln und das aufwühlende Erlebnis sich setzen lassen.
Mir zu Seite saß eine alte Leipzigerin. Nach wenigen Minuten kamen wir ins Gespräch und sie sagte mit zitternder Stimme, wenn das jetzt noch schief geht, dann komme ich rüber zu Euch, und wenn ich bis zum Lebensende in einer Turnhalle auf dem Fußboden schlafen muß.
Heute wissen wir, dass die Vereinigung beider Teile Deutschlands Realität wurde.
Damals schnürte mir dieser emotionale Ausbruch der Angst das Herz zu und ich versuchte Optimismus zu verbreiten. Aber sicher war ich mir durchaus nicht.

So haben wir also 30 Jahre nach dem von mutigen Menschen der DDR erzwungenen Fall der uns trennenden Mauer, heute allen Grund zur Freude. Und wir aus dem Westen haben allen Grund, unseren Landsleuten aus der früheren DDR dankbar zu sein. Sie allein trugen das Risiko für Leib und Leben. Wir im Westen waren nur die Zuschauer. Und häufig auch die schwer erträglichen Besserwisser.
Für die Menschen in der früheren DDR veränderte sich nach der Wiedervereinigung buchstäblich alles. An unsere gesamte Bürokratie mit all ihren Fallstricken mußten sich die Menschen gewöhnen. Arbeitsplätze in stillgelegten, maroden Betrieben fielen weg.
Ein unglaublich schwieriger Übergang, den die allermeisten hier im Osten aber klaglos und tapfer ertrugen, denn sie gewannen die Freiheit, ihre Meinung offen und unsanktioniert laut zu sagen. Sie wollten die Freiheit. Die Freiheit, aus ihrem erzwungenen Gefängnis zu reisen,
die Freiheit, eigenständig zu denken und das, was sie dachten, auch zu sagen.

Und genau diese Freiheit sehen seit geraumer Zeit viele hier im Osten Deutschlands in akuter Gefahr. Früher und sensibler als wir im Westen Deutschlands das überhaupt wahrgenommen haben. Der erlebte und erlittene Umgang mit Unterdrückung,
mit Meinungsterror und Bespitzelung hat ein geradezu seismographisches Sensorium
für die Gefahren der Freiheit bewahrt. Die Wahlergebnisse in den Ostdeutschen Ländern sind k e i n Ausfluss von politischer Naivität oder demokratischer Inkompetenz, wie aus Politik und Medien penetrant verbreitet wird, sondern sie sind gespeist aus erlebter Unterdrückung. Sie sind der Ausfluss des Widerstandes gegen eine Rückkehr von Meinungsterror, Bevormundung und neuer Unfreiheit.
Hier wird tagtäglich mit Sorge registriert, daß unsere Meinungsfreiheit längst gefährdet ist.

Im Westen hat das bislang noch nicht jeder erspürt und begriffen.
Uns fehlt die traumatische Erfahrung.
Im Leitsatz steht:
30 Jahre friedliche Revolution – das ungeliebte Wunder? Am Ende ein Fragezeichen.
Zu einer Zeit, da die Festtagsreden noch nicht gehalten waren, setzte ich das Fragezeichen.
Heute würde ich, nach allem was rund um den 9. November zu hören war, mit einem Ausrufezeichen schließen.
Den Linken im Lande, und dazu zähle ich nahezu alle, bis hin zu den Unionsparteien,
ist diese ostdeutsche Sensibilität, die ostdeutsche Freiheitsliebe und auch der gerne gezeigte selbstverständliche, unverkrampfte Patriotismus ganz einfach zuwider. Das wird höchsten noch bei Fußballspielen ertragen. Nichts hätte das deutlicher machen können als die unterkühlte, besserwisserische Einheitsfeier am 9. November am Brandenburger Tor.
Keine schwarz, rot, goldenen Fahnen waren zu sehen und keine Nationalhymne war zu hören. In keinem anderen Lande der Welt wäre das überhaupt vorstellbar.
Ein Staatsoberhaupt, das seinem Lande eine solche Selbstentleibung zumutete,
würde postwendend verjagt.
Was gibt es für uns in Deutschland politisch Sinnvolleres als „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“.
Das ist das Postulat unserer Nationalhymne.
Dafür stehen die Menschen im Osten unseres Vaterlandes mehr, als viele im Westen.
Dafür danke ich allen und für ihren Mut vor 30 Jahren.[/tab][tab title=”Gunter Weißgerber”]

Quelle: Gunter Weißgerber, 15.11.2019.

„Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, daß Sie Ihre Meinung frei aussprechen dürfen.“.

Soweit Beatrice Evelyn Hall, die diesen Satz Voltaire in ihrem Buch „The Friends Of Voltaire“ 1906 ebendiesem in den Mund legte.

Was sagte Voltaire aber nun tatsächlich?
Fündig wurde ich bei der Bloggerin Akatair. Ich zitiere:
“Le droit de dire et d’imprimer ce que nous pensons est le droit de tout homme libre, dont on ne saurait le priver sans exercer la tyrannie la plus odieuse. Ce privilège nous est … essentiel … ; et il serait déplaisant que ceux en qui réside la souveraineté ne pussent pas dire leur avis par écrit.” Quelle : „Questions sur les miracles“

und auf Deutsch:

„Das Recht zu sagen und zu drucken, was wir denken, ist eines jeden freien Menschen Recht, welches man ihm nicht nehmen könnte, ohne die widerwärtigste Tyrannei auszuüben. Dieses Vorrecht kommt uns von Grund auf zu; und es wäre abscheulich, dass jene, bei denen die Souveränität liegt, ihre Meinung nicht schriftlich sagen dürften.“

Soweit Voltaire und Hall, die meine Begründung für diese Rede bei ihnen liefern. Ich stehe zu Voltaire, auch ich habe Haltung.

Anrede, ich habe es mir gut überlegt, ob ich ihrer Bitte nach einer Rede nachkomme. Nicht wegen der vielen Blockwarte und den „Wir haben es ja bei Weißgerber schon immer gewusst“-Rufenden, die meinen Vortrag ohne Kenntnis des Inhalts verreißen werden. Meine politischen Freunde und Weggefährten sind es, die jetzt weniger begeistert sein könnten.

Sehr geehrte Damen und Herren, Sie luden mit mir einen Ostdeutschen ein, der immer für die Deutsche Einheit in Freiheit war und dies ab Herbst 1989 (im Freundeskreis war das seit meiner Jugend bekannt) auch öffentlich vertrat, der diese Einheit unbedingt unter dem Schutz der NATO und hier vor allem der US-Amerikaner vollziehen wollte, einer der seit Willy Brandts Berliner Frontstadtzeit, Moshe Dayans Bestehen im „Sechs-Tage-Krieg“ 1967 und Helmut Schmidts Idee der „Doppelten Nulllösung“ im Herzen Sozialdemokrat war. Knapp dreißig Jahre war ich das auch mit SPD-Parteibuch und seit Februar dieses Jahres bin ich es wieder ohne Parteibuch.

Zudem bin ich Transatlantiker, Befürworter der sozialen Marktwirtschaft und weiß, dass die Telefone für die Polen, Balten, Ukrainer, Weißrussen, Georgier nicht mehr in Moskau stehen. Was gute Beziehungen auch zur militärischen Supermacht Rußland nicht ausschließt. Aber der Verfassung und der Gewaltenteilung der US-Amerikaner traue ich mehr als Putins Demokratur.

Sehr geehrte Damen und Herren, mit den SED-Nachfolgeparteien SED-PDS, PDS, WASG/Linke und „Die Linke“ wollte ich nie zusammenarbeiten, sah diese Zusammenarbeit auch immer als Zerstörung der politischen Statik der Bundesrepublik. Doch persönlichen, menschlichen Kontakten mit einzelnen Vertretern dieser Partei ging ich nie aus dem Weg. Die politische Auseinandersetzung muss anständigen Umgang miteinander implizieren.

Am Streit um Mehrheiten müssen alle von Bundesverfassungsgericht nicht verbotenen Parteien teilnehmen können, ein Zwang zur Zusammenarbeit entsteht damit nicht.

Gemäß dieser Linie bin ich heute bei ihnen. Sie sind nicht die Partei AfD, aber doch eine AfD-nahe Stiftung.

Ihre grundsätzliche Kritik an parteinahen Stiftungen teile ich übrigens nicht. In Ostblockzeiten sog ich jede Meldung über „Friedrich-Ebert-, Konrad-Adenauer-, Hanns-Seidel- oder Friedrich-Naumann-Stiftung“ gierig in mich rein. Auch finde ich den bisherigen Usus in Ordnung, der diese Stiftungen nach mindestens zwei Legislaturperioden im Bundestag staatlich alimentiert. Der Staat des Grundgesetzes muss ein Interesse daran haben, die Pluralität der Parteienlandschaft auch in deren Stiftungen abzusichern.

Ich kann ihnen diesbezüglich nur raten, sollte die AfD eine dritte Bundestagslegislatur erreichen, den Weg der „Rosa-Luxemburg-Stiftung“ zu gehen. Für den Haushaltsausschuß des Bundestages war immer klar, im Falle einer dritten PDS-Legislatur würde deren Stiftung selbstverständlich zum Kreis der Zuwendungsempfänger aufschließen. Auch den Stiftungen war klar, sie würden den Kuchen teilen müssen.

Da dieses Verfahren auch schon mit der „Heinrich-Böll-Stiftung“ der Grünen vollzogen wurde, wäre derselbe AfD-Vorstoß sicher bis Karlsruhe erfolgreich justitiabel. Nehmen Sie den Rechtsstaat auch an dieser Stelle beim Wort. Der ist nicht ihr Gegner, der schützt ihre Tätigkeit. Jedenfalls solange Sie ihn nicht abschaffen wollen.

Zu ihnen zu kommen, ist nicht die leichteste Entscheidung. Ich beschrieb das bereits. Es fällt mir insofern leichter, als dass die Linkspartei tatsächlich eine Diktaturgeschichte besitzt, diese verharmlost und doch gleichzeitig in Gestalt der „Kommunistischen Plattform“ unverblümt öffentlich präsentiert.

Bei allem Argwohn der AfD gegenüber, eine Diktaturgeschichte besitzt diese nicht und ob der „Flügel“ eine „Nationalsozialistische Plattform“ ist, das ist selbst für den Verfassungsschutz nicht klar. Das macht die AfD nicht sympathischer, diesen Unterschied zur Linkspartei gibt es (noch?). Was „Kommunistische Plattform“ und den „Flügel“ angeht, in Punkto Sozialismus scheinen beide nicht weit auseinander zu liegen.

Erhebliche Probleme habe ich sowohl mit „Die DDR neu erzählen“ seitens der Linkspartei als auch mit dem eigenartigen Wunsch nach Geschichtsumschreibung aus Teilen ihrer Partei. Auch muss die „Wende“ nicht vollendet werden. Freiheit, Demokratie, Gewaltenteilung, soziale Markwirtschaft, das war der Sinn der „Friedlichen Revolution“. Was soll an diesen Grundpfeilern geändert werden? Eine reine Umkehr der Verhältnisse von einer linken Diktatur zu einer rechten war auch nie die Forderung der Demonstranten 1989/90.

Allerdings befinden Sie sich mit dieser für mich abstrusen Forderung nach „Vollendung der Wende“ in guter Gesellschaft. 2009 überraschte Pfarrer Christian Führer das erstaunte Publikum mit einer Forderung nach einer „Zweiten Phase der Friedlichen Revolution“. Wollte der gute Mann Freiheit oder Demokratie oder freie Wahlen oder Gewaltenteilung abschaffen? Der Republik erneut ein ideologisches Attribut anheften? Ohne mich!

Wer in die Öffentlichkeit ruft, muss mit den Reaktionen der Öffentlichkeit leben können. Voltaire ist keine Einbahnstraße. Wenn Voltaire sagte, dass jeder seine Meinung öffentlich vertreten können soll, so nahm er sicher auch für sich in Anspruch, sich mit konträren Meinungen ebenso öffentlich auseinandersetzen zu können.

Wenn also die AfD in Leipzig oder anderswo demonstrieren will, muss sie Gegendemonstrationen aushalten wollen und können. Was die Gegendemonstranten unterlassen sollten, ist die Behinderung von Demonstrationen – die erste Stufe der Gewalt-Eskalation. Für die Ahndung von Gesetzesverstößen sind sowohl bei Demonstrationen als auch Gegendemonstrationen Polizei und Justiz zuständig. Einen Anspruch auf Lynchjustiz kennt das deutsche Recht nicht.

Vor diesem Hintergrund muten ihre sehr notwendigen heutigen Sicherheitsregeln äußerst bedrückend an! Nie und nimmer hätten wir 1989/90 und danach Veranstaltungen politischer Konkurrenz so erschwert oder bedroht. Das Leben eines Frank Magnitz‘, Gunnar Lindemanns oder dessen Sohnes ist genau so viel wert wie das Leben einer Claudia Roth oder eines Cem Özdemirs, eines Walter Lübcke oder einer Angela Merkel!

Das Demonstrationsrecht erkämpften wir 1989 als erstes, ich für meinen Teil werde es immer verteidigen.

II
Zur Geschichte der Presse- und Meinungsfreiheit
(„Haus der Pressefreiheit Hamburg“

„Presse- und Meinungsfreiheit sind Begriffe der Aufklärung, die am Ende des Absolutismus an Gewicht gewinnen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts werden diese Bürgerrechte erstmals in die modernen Staatsverfassungen aufgenommen. …

In Englands Bill of Rights von 1689 wurden die freie Rede und der Meinungsaustausch ausschließlich für Parlamentarier garantiert. Aber 1695 erneuerte das Parlament den Licence Act nicht, damit war de facto die Zensur abgeschafft und Pressefreiheit gewährt.

Am 2. Dezember 1766 verabschiedete der Schwedische Reichstag das weltweit erste Pressefreiheitsgesetz …

In den Vereinigten Staaten von Amerika fand der Gedanke von Pressefreiheit zuerst Eingang in die verschiedenen Verfassungswerke. Zunächst 1776 in Virginia, … und schließlich 1791 in der Verfassung der Vereinigten Staaten. In der ursprünglich ratifizierten Constitution von 1787 war wenig über individuelle Bürgerrechte und gar nichts über Pressefreiheit zu lesen. Erst in später beschlossenen Zusatzartikeln, hier im First Amendment von Dezember 1791, wurde eine gesetzliche Einschränkung von Meinungs-, Presse-, Religions- oder Versammlungsfreiheiten untersagt.

Da hatte die junge Französische Republik entschlossener gehandelt: In Artikel 11 ihrer … Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte – wurden die Meinungsfreiheit und deren Verbreitung unmissverständlich garantiert.

Durch Napoleon Bonaparte verbreitete sich die Forderung nach solchen Menschenrechten auch in Teilen Deutschlands – die wurde in einigen meist kleineren deutschen Staaten des Rheinbunds auch vorübergehend durchgesetzt. Nach den Befreiungskriegen allerdings kam es 1819 in den Karlsbader Beschlüssen, … zur Rückkehr von Zensur und Unterdrückung. …Napoleon wäre kein Kaiser gewesen, hätte er das alles nicht bald wieder kassiert.. (G.W.)

Durch die Märzrevolution von 1848 kam es im Deutschen Reich zu liberaleren Pressegesetzen – sehr schnell in der freien Stadt Frankfurt, wo das Paulskirchen-Parlament tagte. Aber auch das Haus Habsburg sah sich zu Zugeständnissen gezwungen, die dann 1849 in der Deutschen Reichsverfassung festgeschrieben wurden.

In Deutschland wurde das Rad dann später wieder zurückgedreht, nach der Reichsgründung von 1871 durch ein Gesetz über die Presse – diesem hatten Bundesrat und Reichstag untertänigst zugestimmt.

Nach dem Ersten Weltkrieg verabschiedeten Deutschlands Demokraten die Weimarer Verfassung und mit ihr ein liberales Pressegesetz ohne Zensur.

Das aber wurde nach der NS-Machtergreifung schon 1933 durch das Schriftleitergesetz kassiert. …

Nach dem Zweiten Weltkrieg verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 1948 noch unter dem Schock der Kriegsgräuel eine Erklärung der Menschenrechte. Auch darin wurden die Meinungsfreiheit und die Verbreitung von Meinungen über die Medien als Menschenrecht festgeschrieben.

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 werden Meinungs- und Pressefreiheit durch Artikel 5 garantiert.“

Die DDR machte es ganz anders. Die DDR-Verfassung kannte wörtlich keine Zensur, der Staat DDR zensierte und unterdrückte dessen ungeachtet brutal die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit.
„In der Realität konnte nicht einmal Briefpapier ohne Zustimmung der Behörden gedruckt werden.“ ((hhb)

Richard Schmid (1899-1986, SPD, zuletzt bis 1964 Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart in der „Zeit“ am 9. November 1962 “Meinungsfreiheit“:

„Der Wahrheit zuliebe
… Diese Bedeutung werden wir am besten aus den historischen Wurzeln des Rechts erkennen. Als die Idee der freien Meinung bewußt entstand und als Menschenrecht begriffen wurde, war sie liberaler Natur; das heißt, sie war dem Individuum um seinetwillen zugedacht.

Für John Stuart Mill, den Philosophen des Liberalismus, ist es auch die Wahrheit, der zuliebe die Meinung frei sein muß, weil die Wahrheit aus dem Gegeneinander von Behauptung und Widerspruch entsteht.

Meinungsfreiheit
Den Einwand, die Meinung des Einzelnen oder der Minderheit sei schädlich, widerlegt Mill mit dem einfachen Argument:
Daß die Meinung schädlich sei, sei auch nur eine Meinung.

Auch folgendes ist nicht weniger gescheit und richtig: “Aber der Hauptschaden, der durch das Verbot freier Erörterung entsteht, wird nicht in den Köpfen der Ketzer (heute sagt man Nonkonformisten) angerichtet.

Der größte Schaden entsteht bei denen, die keine Ketzer sind und deren geistige Entwicklung sich verkrampft und deren Vernunft durch die Furcht vor Abweichung eingeschüchtert wird.

Wer kann ermessen, was die Welt verliert durch die Menge fähiger Geister, die zaghaften Herzens sind und es nicht wagen, einem kühnen, kraftvollen, unabhängigen Gedankenweg zu folgen,” (On liberty of thought and discussion, 1859)

In Amerika hat die “free-speech-Klausel… die Form, daß dem Gesetzgeber verboten wird, Gesetze zu machen, die die freie Rede einschränken.

Es ist ebenso schwierig, die Freiheit der Meinung zu gewähren, wie sie zu ergreifen. Da wir Deutsche immer noch demokratisch unterentwickelt sind, oder doch unterschiedlich entwickelt, haben wir mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung noch Schwierigkeiten.

Wir neigen dazu, auf Meinungen, die nicht die unseren sind, böse zu werden und dem, der sie äußert, nicht unsere bessere Meinung entgegenzusetzen und auf deren Überzeugungskraft zu vertrauen, sondern die Macht zur Unterdrückung auszuüben oder herbeizurufen. …

Nun hat allerdings die Freiheit der Meinungsäußerung auch ihren außerrechtlichen, gesellschaftlichen Aspekt; und die gesellschaftlichen Maßstäbe dafür, was erlaubt und was nicht erlaubt ist, decken sich mit den restlichen Maßstäben nicht immer.

Sie decken sich um so weniger, je mehr der staatliche Zustand sich vom demokratischen Ideal entfernt. …

Sobald Macht und Geltung unsicher werden, wird die Reaktion schärfer.

Zu einer Demokratie aber gehört, daß Macht und Geltung unsicher werden, weil die Macht vom Volke ausgeht und von Wahlen und von der öffentlichen Meinung abhängt.

Erst in einer reifen, stabilen Demokratie, wo sich eine gewisse Tradition in den demokratischen Prozeduren und im Vorgang des Machtwechsels gebildet hat, wird sich das Recht der freien Meinung wieder sicher entfalten können.
Soweit Richard Schmid 1962.

III
Meinungsfreiheit 1989
Am 12. Dezember 1989 titelte die “Leipziger Volkszeitung” über die “Montagsdemonstration“ vom Vorabend “Andersdenkende waren hautnah beieinander” und schrieb weiter “… Auch wenn die Redner teilweise durch Pfiffe und Buh-Rufe unterbrochen wurden, war die Bereitschaft zum Zuhören deutlich. …
Als einer der damaligen Redner kann ich das nur bestätigen. Dreißig Jahre später liest sich das wie aus einer fernen Welt.

Demonstrierten 1989/90 Montag für Montag für Freiheit und Einheit Hunderttausende entgegen des Uhrzeigersinns um den Leipziger Innenstadtring und liefen gleichzeitig mehrere hundert vorwiegend junge Leute im Uhrzeigersinn innerhalb des Rings völlig gefahrlos dem Wunsch der tausendfachen Übermacht entgegen, so ist das heute alles nicht mehr möglich.

Die 1989 gewonnene Demonstrations- und Redefreiheit zerrinnt in täglichen Exzessen. Im Gegensatz zur DDR geschieht das nicht staatlich institutionalisiert, die Republik des Grundgesetzes schützt die Meinungsfreiheit und das Demonstrationsrecht. Jeder Pegida-Demonstrant müsste das durch den Polizeischutz, den seine Demonstrationen regelmäßig erfahren, inzwischen erkannt haben. Was die Gegner von Pegida nicht sehen und berichten wollen, ist die Gewaltlosigkeit dieser Dresdner Demonstrationen. Die passt einfach nicht ins gewünschte Bild. Ob mir Pegida nun passt oder nicht, das ist anzuerkennen.

Es sind große Teile der Vierten Gewalt in Verbindung mit zur Selbstjustiz neigenden Blockwarten, die ein Gefühl der Ohnmacht aufkommen lassen. Es ist nicht so, dass über Gewalt nicht berichtet wird. Es wird aber parteiisch, einseitig berichtet.

Wer dagegen die sog. Mainstream-Medien und die seriösen Blogs im Internet als eine Medienlandschaft annimmt, bekommt viele gute Informationen auf den Tisch. Es ist nicht so, dass die Mainstream-Medien lügen und in den Blogs die Wahrheit allein zu Hause ist. In der Mitte liegt die Erkenntnis. Überall sind Menschen mit eigenen politischen Ansichten unterwegs. Denken müssen wir schon selbst.

Ich bin auch für das Institut der Öffentlich-Rechtlichen Medien. Wir brauchen eine ausgewogene Grundversorgung. Die im Moment völlig aus dem Ruder läuft. Auch mir ist die rund-um-die-Uhr-Berieselung zuwider. Adenauer wollte das ZDF als Regierungsfernsehen installieren. Was zum Glück damals verhindert wurde. 2019 habe auch ich das Gefühl, mit ARD und ZDF einem Regierungsfernsehen ausgeliefert zu sein. Mit der Regierung Merkel haben große Teile der Medien endlich ihre eigene Regierung. Die ÖR-Medien bedürfen der Evaluierung, nicht der Abschaffung.

Viele Normalbürger gewinnen den abstoßenden Eindruck, dass sich große Teile der vierten Gewalt mit dem Teufel Linksradikalismus gegen den Teufel Rechtsradikalismus verbunden haben und alle Meinungen, die nicht im sehr linken Biotop kursieren, generell als rechts und damit außerhalb der Gesellschaft verorten. Es wird ein riesiger Popanz mit noch mehr Steuergeld aufgeblasen, der diese Gesellschaft spaltet. Und es war die SPD, die diese Spaltung ausgerechnet in Leipzig 2013 auf den Weg brachte. Vor sechs Jahren beschloss die SPD die „Kommunistische Plattform“ der Linkspartei verschweigend, fürderhin einen konsequenten RotRotGrün-Weg zu gehen. Es folgte 2014 die Thüringer Linksaußenkoalition und geradezu schlüssig im September 2018 auf diesem Weg in eine linke Republik der SPD-Ruf nach Einbindung der Antifa in den gemeinsamen politischen Kampf um die Republik. Ja, welche Republik denn? Die Republik, in der die Antifa ein Ministerium besaß, dass war die Diktatur der Arbeiterklasse, die DDR.

Die meisten Demonstranten 1989/90 gingen aber für eine Demokratie ohne rechten oder linken Anstrich auf die Straße. Die linken Jakobiner schickten sie in die Wüste, die rechten Jakobiner wollten sie dort auch verdorren lassen. Auch wollten sie, dass Justitia nach der Klassenjustiz der DDR-Zeit die Augen wieder verbunden werden. In den letzten Jahren gewann ich den Eindruck, an Justitias Augenbinde wird gezerrt.

Seit längerem schwant mir, wären es damals umgekehrte Demonstrationszahlen auf dem Leipziger Ring gewesen, die in dem Fall an Zahl viel kleineren Freiheits- und Einheitsbefürworter hätten ihren Marsch gegen den Anti-Freiheits- und Einheitswunsch der dann tausendfachen Überzahl nicht ohne größte Gefahr für Leib und Leben gehen können. Zum Glück waren wir damals Tausende Male mehr als viele der damaligen Gegenläufer.

Noch etwas anderes war 1989/90 ff. undenkbar. Die SED als Partei der Diktatur war Hauptgegner, deren Demonstrationen und Aktivitäten wurden jedoch nicht behindert oder gar unmöglich gemacht. Auch verprügelten die friedlichen Demonstranten keine SED-Mitglieder. Das mit dem Verprügelnwollen anderer kam erst später. Erinnern Sie sich an die Hannoveraner „Chaostage“ bis 1990? Die Szene muss mit der Einheit nach Leipzig übergesiedelt sein.

Jan Fleischhauer schreibt am 9. November 2019 im Focus „Im linken Lager heißt es jetzt, man müsse AfD-Wähler ‚ausgrenzen, ächten, kleinhalten, ihnen das Leben schwer machen‘“. Auf diese Idee können nur Leute kommen, die dort weitermachen wollen, wo 1989 SED und MfS aufhören mussten: Bei Gesinnungsterror und Hexenjagd gegen die eigene Bevölkerung. Wer nicht dafür ist, ist dagegen und gehört ins Lager! Rechts ist, was nicht mit den Augen von Linksaußen auf die Welt blickt. Rechts ist dabei alles, was rechts des linken Randes über die Mitte bis zum Randbereich des demokratischen rechten Spektrums reicht. Nie hätte ich gedacht, dass große Teile der Union diese Sicht übernehmen statt ihren Platz „rechts der Mitte“ zu verteidigen.

SED und MfS hatten am Ende mit dieser Sicht nahezu die gesamte Bevölkerung gegen sich aufgebracht. Unglaublich aber wohl doch wahr: Das Experiment wird im Moment ohne Stasi aber mit Hilfe der Antifa wiederholt.

Was sich rächen wird. 2017 wählten im Osten 4 Millionen die AfD und im Westen waren es 6 Millionen. Die vereinigten Ächter, Kleinhalter und Lebens-Schwermacher scheinen sich die Steigerung dieser Zahlen mit Hilfe des Realpolitik-Ersatzes „Gegen Rechts“ vorgenommen zu haben. AfD-Plansilvester für die Bundestagswahl 2021 war dieses Jahr in Sachsen, Brandenburg und Thüringen.

Wir ächteten die SEDPDSLinkswähler nicht Wir verstanden die zwar nicht, denen deshalb Gewalt antun? Wir wären in dem Fall doch nicht besser als die untergehende Diktatur gewesen. Und genau das wollten wir nicht sein. Mit uns ging Voltaire. Die SEDPDSWähler wurden mit der Einheit Bundesbürger und somit Teilnehmer des politischen Wettbewerbs.

Es ging von uns aus immer ausschließlich gegen deren Partei und deren leninistischen Geist. Die einzelnen Mitglieder und Wähler hatten von uns außer Widerspruch nichts zu befürchten.

Für das Grundrecht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit gingen Millionen Ostdeutsche auf die Straße. Niemand hat das Recht, dieses Grundrecht willkürlich einzuschränken!
Wer anderen dieses Grundrecht vorenthält, der wird es infolge selbst irgendwann verlieren. Weil er/sie das Fundament von Freiheit und Demokratie zerstört.

IV
Meinungsfreiheit 2019 – Der Durchmarsch von Rosa Luxemburg
Die Meinungsfreiheit ist in der Bundesrepublik seitens Teilen der Zivilgesellschaft unter tatkräftig-wohlmeinender staatlicher Förderung schwer unter Druck. Nur existenziell Unabhängige können es sich leisten, in Widerspruch zum ökologischen Umbaudesaster der Volkswirtschaft, zur Klimahysterie, zur Destabilisierung der Energiewirtschaft, zum Strangulieren der Automobilindustrie, zur Atomisierung der Gesellschaft mittels des Genderunfugs, zur fahrlässigen Zuwanderungs- und einäugigen Sicherheitspolitik zu gehen.

Kritik wird zunehmend zur Majestätsbeleidigung und verbal zu „Hass“ disqualifiziert.

Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz war es aus gerechnet ein Sozialdemokrat, der das Schnüffeln und Anzinken salonfähig machte. Der Verfassungsschutz bietet ein „Hinweistelefon“ für schnelles Anzinken an. Cornelius Sulla (römischer Dictator von 82-79 v.u.Z.) und seine Proskriptionslisten lassen grüßen.

Die Freiheit der Wissenschaft ist ebenfalls schwer unter Druck. Was die gängigen Lehrmeinungen bestätigt, besitzen diese die größeren Chancen auf Förderung. Das Prinzip „These und Antithese“ hat es in der Bundesrepublik zunehmend schwer.

Diskutieren im öffentlichen Raum oder gar in Universitäten? Zunehmend Fehlanzeige. Wie inzwischen selbst Christian Lindner und Thomas de Maiziere feststellen durften. Im Fall Bernd Luckes mögen die beiden noch mitleidig gelächelt haben. Jetzt wissen sie es selbst, wie es ist.

Selbstverständlich kann alles gesagt werden, doch trauen können sich das inzwischen nur noch existenziell unabhängige Menschen. Der mittelalterliche Pranger feiert fröhliche Urstände. Wer nicht dafür ist, ist dagegen! Gerade Ostdeutsche besitzen hier noch eine besondere Sensibilität.

!989 war es der Staat, der mit Terrormitteln Angst verbreitete und damit die Meinungsfreiheit unterdrückte. Als die Diktatur zusammenbrach, spürten die Menschen ihre plötzliche Angstfreiheit.
2019 kann der Staat die Meinungsfreiheit oft nicht schützen, weil der Druck aus radikalen Teilen der Bevölkerung kommt. Ein Staat ist faßbar, Guerillera ist es nicht.

Rosa Luxemburg postulierte „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ und meinte damit die Freiheit in der eigenen Blase. Viele Journalisten im Lande scheinen ihr Geschäft genauso zu verstehen.

Der 1918 abgedankte sächsische König würde vermutlich sagen „Das hättsch emol nich gedacht“.

V
Meinungsfreiheit, Pluralismus in der EU
Ich nehme die Visegradstaaten und Polen. Gerade mit den Ungarn und ihrem wunderschönen Land verbindet mich unheimlich viel. Die meisten Ungarn lieben die Idee des binnengrenzenlosen Europas in dessen Mitte ihr Land liegt. Nichts wollen sie mehr als dazu zu gehören – als Freie unter Freien. Nur wollen sie in der EU nicht Befehlsempfänger, Zuwendungsempfänger sein. Geld für Botmäßigkeit, kein Geld für Unbotmäßigkeit. Das kennen die Ungarn, wenn auch viel brutaler, noch aus Zeiten, in denen sie eine Moskauer Kolonie waren. Die Ungarn sagen „Ja“ zur EU und „Ja“ zu mehr Mitbestimmung und „Ja“ zu eigener Beweglichkeit. Wo bitte, ist daran „Europa-Feindlichkeit“ festzustellen? Das ist absurd.

Ich komme zu den Polen. Die verhalten sich angeblich nicht rechtsstaatlich. Nur weil sie das nachholen, was wir nach 1990 taten: Richter des Unrechtssystems, die sich schuldig machten, aus dem Justizsystem herauszunehmen. Die Polen wollen das jetzt erst nachvollziehen, weil sie mit ihrem Runden Tisch 1989 viele Fehler machten.

Insgesamt nehme ich eine unausgewogene Haltung der EU zu den Staaten des ehemaligen Ostblocks wahr. Wird denen übelgenommen, dass sie nicht nur die Erfahrungen mit der Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, sondern auch die Erfahrungen unter den Kommunisten ernst nehmen?

VI
Betrachtung AfD
„Schau in den Spiegel der anderen, auch wenn er verzerrt!“ – so lautete eine Spaltenüberschrift in der „Budapester Rundschau. Sie haben mich eingeladen, nun müssen Sie auch etwas aushalten. Die AfD ist natürlich nicht die verfolgte Unschuld. Das wissen Sie auch. Eher harmlos, wenn auch auf den Nerv gehend sind da noch die ständigen „Merkel-muss-weg“-Chöre. Ich finde auch, dass diese Bundeskanzlerin großen Schaden anrichtet, doch muss das in freien Wahlen geklärt werden und nicht mit diesem Klamauk, der irgendwo auch Frau Merkels Menschsein trifft. Auch sie ist nicht vogelfrei. Sprache und Gewalt sind schwierige Verwandte.

2017 war ich unangenehm berührt. Die Notwendigkeit der Stichworte Wehrmacht in Verbindung mit Stolz erschloss sich mir nicht. Der Gedanke an meinen 2013 verstorbenen Vater kam in mir hoch. Wie hätte er, der fünf unendliche Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft bei sehr schwerer Arbeit zubringen musste, reagiert? Er hätte geschimpft, ihm wären richtig böse Worte eingefallen. Seine Kriegsjahre waren furchtbar, die Umstände seiner Gefangennahme waren fürchterlich, seine Lagerzeit war hoffnungslos. Und doch sagte er uns Kindern immer „Die armen Schweine, die uns bewachen mussten, die hatten noch viel weniger als wir zu fressen. Weil wir schwer arbeiten und die uns nur bewachen müssten“ Diese Sätze hatten sich meinem Bruder und mir tief eingebrannt. Unser Vater machte nicht die „Russen“ für seine Lage verantwortlich. Es war dieser Scheiß-Hitler und sein Scheiß-Krieg! Und diesen Scheiß-Krieg begannen wir!

Unser Vater war zeitlebens Antikommunist und Antinationalsozialist. Also ein Demokrat. Er hasste das Sowjetsystem, die Menschen darin ließ er das nicht spüren. Unsere Eltern fuhren gern im Sommer in ein Betriebsferienheim an die Ostsee. Zwischen Berlin und Trassenheide standen oft meines Vaters „arme Schweine“ in Gestalt von Sowjetsoldaten mit Motorrad an Straßenkreuzungen, die manchmal tagelang ohne Verpflegung auf ihre Kolonnen warteten. Jedes Mal fuhren unsere Eltern in das nächste Dorf und kauften dort Brot, viel Brot. Sie brachten es den jungen Kerlen und bei der Übergabe sagte unser Vater immer „Hier, chleb, Brot“ Aber bitte beim nächsten 1953 nicht auf uns schießen!“. Die Soldaten verstanden den Sinn der Worte sicher nie, aber dass sie von Deutschen Brot erhielten, dafür waren sie dankbar. Ihre Vorgesetzten, für die immer Krieg war, waren dazu nicht in der Lage.

Es war glücklicherweise Gorbatschow, der 1989 die Panzer in den Kasernen stehen ließ. Mit Putin wäre uns das nicht passiert. Das mit der Freiheit und der Demokratie und der Deutschen Einheit.

VII
Ausblick
Die Gesellschaft der Bundesrepublik ist derzeit in schwerem Fahrwasser. Zurück in die Zeit vor 1918 oder vor 1945 will sie mit Sicherheit nicht. Ich auf gar keinen Fall! Aber ich will auch keine Bundesrepublik, in der sich Meinung nur erlauben kann, wer mit der offiziösen Meinung der Bundesregierung übereinstimmt oder wer so unabhängig ist, dass ihm keine existenzielle Not droht.

Eine Gesellschaft, in der nicht offen diskutiert werden kann, die ist auch ohne die Machtinsignien einer Diktatur ohnmächtig. Eine Politikstrategie, die Kritik um der Verbesserung willen zum „Entweder-Oder“ degradiert, ist kurzsichtig, dumm und verwerflich. Wer Kritik mit Hetze verwechselt, hat Meinungsfreiheit nicht verstanden. Und wer sich heute über raue Töne im Parlament künstlich aufregt, sollte sich nicht rührselig an Adenauer, Schumacher, Strauß, Barzel, Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, Fischer erinnern. Die würden heute alle im Hass-Karzer einsitzen. Und ein Jagdruf auf eine Regierung kam 1994 von den Grünen.

Sehr geehrte Damen und Herren, Sie beklagen oft zu recht, dass ihnen Meinungs- und Demonstrationsrecht seitens der Zivilgesellschaft vorenthalten und seitens vieler Medien das nicht kritisiert wird. Ich hoffe, dass Sie heute und in Zukunft, individuell und als politisches Subjekt/Partei/Fraktion, alles das hochhalten und kraftvoll dafür eintreten, dass es ihrem politischen Widersacher niemals so ergeht, wie sie es jetzt beklagen. Nur so lässt sich Vertrauen in eine politische Kraft im demokratischen Gemeinwesen aufbauen

[/tab][tab title=”Michael Klonovsky”]

Geehrte Damen, meine Herren, 

mein Thema ist heute eine Art Synopse zwischen DDR-Journalismus und Journalismus West, allerdings auf literarischem Wege. In meinem Roman „Land der Wunder“, der 2005 in Zürich erschienen ist, nachdem ihn im Land der Wunder zuvor 31 Verlage abgelehnt hatten, fällt exakt in der Mitte die Mauer, und der berühmte Umbruch findet statt. „Land der Wunder“ ist ein Deutschlandroman, ein Entwicklungsroman, ein Liebesroman – und eben auch ein Wenderoman. Die Hauptfigur, Johannes Schönbach, ein Altphilologe, der wegen mangelnder Linientreue von der Universität geworfen wurde und sich, wie es hieß, „in der Produktion bewähren“ musste, landet durch Zufall kurz vor dem Kollaps der DDR beim „Berliner Tageblatt“, einer SED-Zeitung, und zwar als Korrektor. Schönbach ist eine Labormaus der Wiedervereinigung. In der sogenannten Wendezeit steigt er zum Starautor der einstigen SED-Gazette auf, die von einem Westverlag gekauft wird; mit den neuen Chefs werden zwar die alten Totems geschleift, aber sie bringen ihre neuen Tabus mit. Später wechselt Schönbach zu einem sogenannten People-Magazin – der Begriff „Blödenblatt“ (Eckhard Henscheid) träfe es auch –, weil er zum einen hofft, dem politischen Journalismus zu entkommen, zum anderen weil er dort (noch) mehr Geld verdient.

Das erste Kapitel, aus dem ich Ihnen eine leicht gekürzte Versione vortrage, spielt in der Redaktion des kommunistischen „Tageblatts“ in der Spätzeit der DDR. Das zweite führt uns in die journalistischen Untiefen des West-Journalismus. Ähnlichkeiten sind rein zufällig und haben nichts zu bedeuten.

 

Ein Naseweis wird eingenordet 

»Sie können doch nicht einfach den Ersten Sekretär anrufen!«, schnaubte der Chefredakteur. Manfred Fleischer war ein baumlanger Mann von zweiundsechzig Jahren, der aber die merkwürdige Angewohnheit hatte, ständig den Kopf hängen zu lassen, vielleicht weil er sich als zu hochgewachsen empfand, vielleicht weil ihm seine Vorgesetzten aus der Abteilung Agitation und Propaganda beim Zentralkomitee der SED das Haupt dauernd neu zurechtsetzten, vielleicht auch aus genereller Daseinsbeschwerlichkeit. Überhaupt war er ein Mensch, dem es an Spannkraft fehlte. Er saß nie aufrecht auf seinem Chefredakteurs-Sessel, sondern hing eher darin, der Mund mit den hängenden Lefzen stand meist halboffen, und sein Händedruck war schlaff. 

»Aber es war doch seine Rede«, erwiderte Schönbach etwas kleinlaut. 

»Sie können nicht eben mal so den Ersten Sekretär anrufen«, wiederholte der Chefredakteur und sah Schönbach durch die einweckglasbodendicken Gläser seiner gewaltigen Brille an, wobei auch sein Blick wenig Furor ausstrahlte. Er war ein gebrochener Mann, zu lange schon Chef in einem Land, wo die Chefs von den vorgesetzten Funktionären fast nach Belieben gegängelt werden konnten. Aufbrausen und Rüffeln war im Grunde nicht seine Sache. 

Anders verhielt es sich bei der dritten Person im Raum, einem kleinen Mann mit Lederjacke und hoher, faltenzerfurchter Stirn, der eine frappierende Ähnlichkeit mit Louis de Funès besaß. Das war der stellvertretende Chefredakteur Walter Funkenkamp, und was ihm sein Wuchs an Ausstrahlung versagte, kompensierte er mit Elastizität und Strenge. Wohl niemand in der Redaktion hegte Zweifel daran, dass er der heimliche Chef des Berliner Tageblatts war. Er schien – im Gegensatz zu Fleischer, der dazu letztlich nicht imstande war – ernstlich böse auf Schönbach zu sein, funkelte ihn an und sagte mit leiser, aber dräuender Stimme und in messerscharfer Diktion: »Was denken Sie sich eigentlich, Kollege? Wo kämen wir denn hin, wenn hier jeder jeden anruft? Glauben Sie, der Erste Sekretär der SED- Bezirksleitung Berlin hat nichts Wichtigeres zu tun, als Ihre Anrufe entgegenzunehmen?« 

Bestimmt hat er das, dachte Schönbach. Immerhin war dieser Staat am Kaputtgehen. Die Lage wurde von Tag zu Tag prekärer, die Verlogenheit der offiziellen Selbstdarstellung immer unerträglicher. Wie ein Sarkophagdeckel lastete die Herrschaft des greisen Politbüros auf dem Land. Die Existenz von Oppositionsgruppen ließ sich dennoch kaum mehr verheimlichen. Über das West-Fernsehen behaupteten deren Vertreter, bei den Kommunalwahlen am vergangenen Wochenende, bei denen angeblich mal wieder 98,85 oder auch 110 Prozent der DDR-Bürger für die Kandidaten der Nationalen Front votiert hatten, sei Betrug im Spiel gewesen. Außerdem hatten die Ungarn Anfang des Monats damit begonnen, den Eisernen Vorhang aufzuschneiden. Sie bauten einfach die Grenzbefestigungen ab, und keine russischen Panzer rückten ein, um sie daran zu hindern. Seitdem meldeten die West-Nachrichten jeden Abend neue Zahlen von DDR-Flüchtlingen, als würden sie Flusspegelstände bekannt geben. Natürlich stand nichts davon im Berliner Tageblatt, dem Organ der SED-Bezirksleitung der Hauptstadt der DDR, und in den Konferenzen sprach Funkenkamp abschätzig von Leuten, die sich in Ungarn herumtreiben, wenn die Rede ausnahmsweise mal darauf kam. Aber das Thema stand selten zur Debatte; man sprach in den Konferenzen vielmehr darüber, wie die Genossen Journalisten noch besser über die immer bessere Befriedigung der Bedürfnisse der Werktätigen berichten könnten. Parallel dazu entlarvten verdiente Leitartikler die Hetze der West-Medien gegen die Errungenschaften des Sozialismus. Dabei hetzten die West-Medien gar nicht, wie Schönbach fand; viele Medienvertreter schienen die DDR sogar mehr zu mögen als beispielsweise er selber, was daran liegen mochte, dass sie nicht in ihr lebten. 

»Bestimmt hat der Erste Sekretär Wichtigeres zu tun«, sagte Schönbach einsichtig, »aber ich habe ihn auch nicht von seiner Arbeit abgehalten, es ist ja nicht der Erste Sekretär ans Telefon gegangen – « 

»Das wäre ja noch schöner!«, schnauzte Funkenkamp. Er würde einen prima Kommissar in einem sowjetischen Revolutionsfilm abgeben, dachte Schönbach. »Sie hätten mich anrufen können oder einen meiner Stellvertreter«, mahnte Fleischer. 

Die Sache war die, dass Schönbach, der seit einem halben Jahr beim Berliner Tageblatt als Korrektor arbeitete, in dieser Eigenschaft auch eine Rede Korrektur las, die ebenjener Erste Sekretär, der obendrein Mitglied des Zentralkomitees der SED und des Politbüros war, gehalten hatte und die im Tageblatt abgedruckt werden sollte – wie nahezu jede Rede, die einer der führenden Genossen hielt, obwohl kein Mensch diese Endlos- Jucheis und Tätärätäs auf das welthistorische Schlaraffenland und Anti-Ausbeutungs-Bollwerk zwischen Erzgebirge und Ostsee las. In solchen Reden fanden sich stets einige Zitate sozialistischer Klassiker, und in jener, um die es ging, war ein Zitat von Friedrich Engels als eines von Karl Marx wiedergegeben gewesen, so dass sich Schönbach in seiner Eigenschaft als Korrektor bemüßigt gefühlt hatte, den Verfasser des Textes anzurufen. Und das war diesmal eben der Erste Sekretär gewesen – beziehungsweise dessen Büro, denn als Normalsterblicher wäre er nie und nimmer zum Ersten Sekretär durchgedrungen. 

Ein Normalsterblicher gelangte freilich auch selten ins Büro des Chefredakteurs. Schönbach hatte hier anlässlich seines Einstellungsgesprächs gesessen, und ein zweites Mal war im Grunde nicht vorgesehen. In einem Detail unterschied sich das Büro des Chefredakteurs mit absoluter Sicherheit nicht von jenem des Ersten Sekretärs. Dieses Detail befand sich an der Wand Schönbach gegenüber und stellte einen Menschen am Eintritt des Greisenalters dar – graue, nach hinten gekämmte Haare, viereckige Hornbrille, freundliches, etwas verschlagenes Lächeln –, wie ihn manches Kind sich vielleicht als Opa gewünscht hätte, aber kaum ein Erwachsener als Regierungschef. 

Auf der gegenüberliegenden Front des Zimmers legte eine dunkelbraune, mattglänzend lackierte und ansonsten jeder gestalterischen Idee bare Schrankwand stummes Zeugnis ab, warum manche Ostdeutsche ihre Suche nach ansprechendem Mobiliar bis über die ungarische Grenze ausdehnten. 

»Als Korrektor ist es Ihre Aufgabe, zu kontrollieren, ob der Setzer einen Fehler gemacht hat«, sagte Funkenkamp, »und nicht die Zitate des Ersten Sekretärs zu berichtigen, verstanden!« 

»Jetzt ja«, erwiderte Schönbach. »Ich dachte nur … es ging ja nicht um ein Zitat des Ersten Sekretärs, sondern um eines von Karl Marx beziehungsweise eben nicht von ihm … Ich wollte ja nur … Soll denn der politische Gegner denken, wir zitieren unsere Klassiker nicht richtig?« 

»Sie scheinen generell so ein Neunmalkluger zu sein«, knurrte Funkenkamp. »Wer hat Sie überhaupt eingestellt?« 

»Das war ich, Walter«, sagte der Chefredakteur beschwichtigend. 

Funkenkamp stieß heftig Luft durch die Nase und murmelte etwas Unverständliches. 

In der Tat verhielt es sich, wie Fleischer gesagt hatte. 

Über einen mit dem Chefgrafiker des Tageblatts befreundeten ehemaligen Studienkollegen hatte Schönbach erfahren, dass die Zeitung einen Korrektor suchte, weil einer weggestorben war, und sich beworben. Man gewährte ihm einen Vorstellungstermin, obwohl er kein SED-Mitglied war, aber anscheinend hatte sich kein Genosse als Alternative angeboten. Aus irgendeinem Grund kümmerte sich der oberste Tageblatt-Macher persönlich um die Sache, und der Zufall wollte es, dass Schönbach, während er im Vorzimmer auf die Audienz wartete, in der dort liegenden aktuellen Ausgabe auf der Titelseite zwei Druckfehler entdeckte. So konnte er die Eröffnungsfrage des Chefredakteurs – »Finden Sie denn überhaupt Druckfehler?« – für seine Person zufriedenstellend beantworten, und dass er halber Philologe war, verfehlte seine Wirkung nicht, wenngleich es die Frage aufwarf, die der Chefredakteur denn auch prompt stellte: »Und wieso haben Sie Ihr Studium abgebrochen?« 

»Aus persönlichen Gründen«, hatte Schönbach genuschelt. 

Seine Kaderakte hatte auf dem Schreibtisch gelegen, aber entweder hatte der konfuse Fleischer nicht hineingeschaut, oder aus den Begleitmaterialien der Universität ging doch nicht hervor, dass er hatte gehen müssen. Das Problem war, dass man nicht wusste, was alles in dieser Akte stand, die einem als stigmatisierende Klette lebenslänglich anhing. 

So war Schönbach Korrektor bei einer SED-Zeitung geworden, und es war alles andere als ein Vergnügen, eine in der DDR erscheinende Zeitung Zeile für Zeile zu lesen. Die Arbeit war nicht ganz ungefährlich, es konnte richtig Ärger geben, wenn beispielsweise statt Erich Honecker Erich Hocker gedruckt stand, wie in einem norddeutschen Blatt geschehen, oder aus dem Staatsratsvorsitzenden der Staatsratsvortzende wurde; man war schnell bereit, den Beteiligten Absicht – das hieß: Sabotage – zu unterstellen. Gedrucktes besaß eine tempelreliefhafte Gültigkeit im Arbeiter- und-Bauern-Staat. 

Aber wäre es nicht auch Sabotage gewesen, dem Ersten Sekretär ein Engels-Zitat als Marx-Zitat durchgehen zu lassen? Mitunter machte man es verkehrt, egal, was man tat. 

Funkenkamp riss Schönbach aus solchen Gedanken, indem er ihn mit böse funkelndem Blick anknurrte: »Die Kulturredaktion hat sich beschwert, Sie würden dort dauernd Texte anbieten.« 

Schönbach verstand nicht, was er damit zum Ausdruck bringen wollte, aber offenbar hatte man das Thema gewechselt. Fragend sah er die Chefs abwechselnd an. 

»Zum Beispiel einen Beitrag über den Komponisten Schönberg«, fügte Fleischer hinzu, wobei er den Namen von einem vor ihm liegenden Zettel ablas. Wie es aussah, hatten die beiden eine generelle Abrechnung mit dem allzu diensteifrigen Korrekturleser vor. 

»Ja, es ist vor kurzem eine Essaysammlung von Schönberg bei Reclam erschienen«, sagte Schönbach, »aber wieso haben die Kollegen sich beschwert?« 

»Es ist nicht Ihre Aufgabe, Artikel zu verfassen«, klärte ihn Funkenkamp auf. »Sie sind hier als Korrektor angestellt. Wenn wir Redakteure bräuchten, würden wir Redakteure einstellen, Genossen, die in Leipzig Journalistik studiert haben und etwas von der Sache verstehen. Können Sie mir folgen?« 

Schönbach schwieg bockig. 

»Oder steht in Ihrem Arbeitsvertrag, dass Sie Artikel verfassen sollen?« 

»Nein.«

»Sehen Sie. Also halten Sie sich daran.«

»Sie wissen doch«, ergänzte Fleischer, auf den Zettel vor sich blickend, »dass dieser Schönberg ein dekadenter bürgerlicher Individualist war.« 

»Er war ein von den Nazis verfolgter Jude – « 

»Unterbrechen Sie den Genossen Fleischer nicht«, unterbrach ihn Funkenkamp. 

»Ich verstehe unsere Verlage nicht«, maulte er in Richtung Chefredakteur, »ständig geben sie irgendwelchen West-Moden nach! Was sollen unsere Menschen mit dieser spätbürgerlich-parasitären Zwölftonmusik anfangen? Die Herren Künstler! Ablenkung vom Klassenkampf! Das müssen wir nicht noch rezensieren!« 

»Sehen Sie, Kollege Schönberg«, sagte der Chefredakteur, »wir wollen Sie hier nicht fertigmachen oder so, aber ich fürchte, Sie als Nichtgenosse sind sich nicht im Klaren darüber, dass wir in einer Zeit verschärfter Klassenauseinandersetzungen leben. Sehen Sie, diese verblendeten Leute, die in Ungarn die Grenzen verletzen und ihren Staat verraten, der ihnen alles finanziert hat: die Ausbildung, die Wohnung …« Fleischer suchte ein paar Sekunden nach dem Beginn seines Gedankenfadens, dann fand er ihn und fuhr fort: »… dass diese Leute glauben, im Westen zu leben sei besser, als den Sozialismus weiter aufzubauen, das fängt an mit Artikeln über Schönbach an. Was sollen unsere Bürger denn denken, wenn ihnen die sozialistische Presse die bürgerliche Kultur andient?«

»Verstehen Sie?«, schnauzte Funkenkamp. 

Dass Schönbach jetzt beharrlich schwieg, hielt Funkenkamp vermutlich für Verstocktheit, Fleischer dagegen schien beginnende Zerknirschung zu wittern.

»Auch Kultur ist Politik!«, raunte der Chefredakteur und blickte ihn mit Verschwörermiene an. »Sie glauben vermutlich, völlig unpolitisch zu handeln, wenn Sie der Kulturredaktion beispielsweise vorschlagen, über Opernsänger zu schreiben. Weit gefehlt! Denn was haben Sie vorgeschlagen? Na? Einen Artikel über einen West-Sänger!« 

Er wollte die Pointe wirken lassen, doch Funkenkamp mischte sich ein und fragte unwirsch: »Verstehen Sie davon überhaupt was? Sind Sie ausgebildeter Sänger?« 

»Wenn Sie schon diesen Schreibdrang verspüren, schreiben Sie doch über die vielen hervorragenden Sänger aus unserem Staat!«, empfahl Fleischer.

»Über wen denn?«, wollte Schönbach wissen. 

»Über wen, über wen!« Der Chefredakteur gab die eben erst erlangte hochbequeme Position auf und sah hilfesuchend zu seinem Stellvertreter. 

Der wusste auch diesmal Bescheid. 

»Über Peter Schreier und Theo Adam zum Beispiel! Das sind Weltspitzensänger. Das heißt nicht, dass Sie jetzt über sie schreiben sollen, verstehen Sie den Chefredakteur nicht falsch, dafür gibt es Experten, und allzu viel scheinen Sie ja von der Sache nicht zu verstehen, wenn Ihnen nicht mal diese berühmten Namen einfallen.« 

Die Sache war die, dass Schönbach der Kulturredaktion einen Artikel über den Tenor Peter Anders angeboten hatte, dessen sich nähernder 35.Todestag den Anlass bot und den die stellvertretende Abteilungsleiterin erst gelobt und sodann in den Druck gegeben hatte. Peter Anders für einen Westdeutschen zu erklären, erforderte eine arg selektive Wahrnehmung: Der Mann war 1954 gestorben und hatte somit den größten Teil seiner Karriere als himmelsrichtungspräferenzlos deutscher Sänger bestritten. 

Aber niemand aus der Kulturredaktion hatte sich seine Schreib-Offerten verbeten. Umso mehr überraschten ihn die Vorwürfe, die nun gegen ihn erhoben wurden; außerdem war es peinlich, denn nun stand er da als der Korrekturfuzzi, der gern Redakteur sein wollte und den echten Redakteuren mit seiner Beflissenheit auf die Nerven ging. 

Aber das war erst einmal Nebensache, gemessen daran, was die beiden mit ihm vorhatten. Möglicherweise kam das dicke Ende noch. Er überlegte, was er dem Politikredakteur Helmer beim Biere so alles erzählt hatte. Vielleicht war Helmer ja ein Spitzel? Oder sollte sich das Strafgericht allen Ernstes in den Aufforderungen erschöpfen, er möge, erstens, niemals wieder den Ersten Sekretär anrufen und, zweitens, die unaufgeforderte Produktion von Artikeln einstellen? 

Fast hatte es den Anschein, denn der Chefredakteur arbeitete sich in plötzlicher Hektik aus seinem Stuhl, indem er etwas von Terminen brabbelte. Funkenkamp verstand und übernahm die Abservierung. 

»Also, Kollege«, sagte er schmallippig, »ich hoffe, wir haben uns verstanden. Wenn Sie ein Problem mit einem Artikel haben, rufen Sie Ihre Vorgesetzten in der Redaktion an und sonst niemanden. Und was die Schreiberei betrifft, überlassen Sie das Leuten, die sich damit auskennen. – Sie können jetzt gehen.« 

 

Wir wechseln jetzt in die späten 1990er Jahre nach München, zu V.I.P., dem People-Magazin, dessen Chefredakteur Franz-Joseph Rosentreter heißt. Der Biologie-Professor, von dem hier gleich die Rede ist, wird regelmäßig von V.I.P. interviewt, und zwar kommentiert er in diesen Interviews das Verhalten von Prominenten aus der Perspektive des Verhaltensbiologen. Aber dann trug sich folgendes zu.  

 

Wie Professor Gralssucher kurzzeitig zum Nazi wurde 

In diesem Sommer reiste Professor Eusebius Gralssucher weder zu den Papuas noch zu den Eipos, er beobachtete keine Balzrituale bei Haubentauchern oder das Gruppenverhalten von Gibbons, sondern gönnte sich zum ersten Mal in seinem For- scherleben einen Erholungsurlaub. Selbstredend legte sich einer wie er nicht an den Strand, sondern er reiste nach Nepal, wo er eine Acht-Quadratmeter-Klause in einem buddhistischen Kloster auf knapp 3500 Meter Höhe gemietet hatte, um sich dort in völliger Abgeschiedenheit einzig der Selbstversenkung zu widmen. 

Aber als Gralssucher am Ende seines Urlaubs auf dem Flughafen von Katmandu eine deutsche Zeitung kaufte und aufschlug, rutschte ihm sein Herz ins unterste Chakra, und vorbei war es mit der Seelenruhe. Der bekannte Verhaltensforscher Professor Gralssucher sympathisiere mit Neonazis, musste er zu seiner Verblüffung lesen, und noch verblüffender war, dass der Verfasser des Artikels so tat, als habe man das ja ohnehin geahnt. Hatte Gralssucher – so las Gralssucher – nicht seit Jahren in seinen Büchern und Fachzeitschriftsartikeln biologistische Ansichten verbreitet? Hatte er nicht permanent versucht, die Zivilgesellschaft der Bundesrepublik zu analysieren, indem er Verhaltensmuster aus dem Tierreich auf sie anwendete? Hatte er dabei nicht einer anerkannten Fernseh-Moderatorin, die sich dem wachsenden deutschen Rechtsextremismus couragiert entgegenstemmte, indem sie öffentlich aus dem Tagebuch der Anne Frank vorlas, bescheinigt, sie poliere bloß demonstrativ ihren Heiligenschein? Hatte er sich nicht in Interviews gegen die deutsche Einwanderungspolitik ausgesprochen? Dass so einer mit dem bekannten und berüchtigten Neonazi und Auschwitz-Leugner David Irving sympathisiere, sei letztlich so überraschend nicht. 

Der Professor verstand kein Wort. Was war geschehen? 

Im Grunde nichts weiter, als dass der berühmte Ethologe den Fragebogen einer großen Zeitung, den er zuvor zweimal desinteressiert zurückgewiesen hatte, nun doch durch seine Sekretärin hatte ausfüllen lassen, und zwar unmittelbar vor seiner Abreise ins Funkloch Nepal. Gralssucher war ein enorm belesener Wissenschaftler, aber ansonsten ein völlig illiterater Mensch. Anstatt Romane zu lesen, hörte er im Flugzeug lieber Tierstimmen per Kopfhörer, und er hatte unter der Rubik des Lieblingsprosaschriftstellers einen Strich setzen wollen, aber seine Sekretärin mahnte, ein Professor dürfe sich bei dieser Rubrik keinen Strich erlauben, der Letzte, der dort einen Strich gesetzt habe, sei der Fußballer Andy Möller gewesen, er wolle doch wohl nicht mit einem Fußballspieler in einen Topf geworfen werden. Gralssucher hatte in seiner Erinnerung gewühlt, woraufhin ihm eingefallen war, dass er vor ein paar Jahren den Roman Gottes Werk und Teufels Beitrag des amerikanischen Autors Irving gelesen hatte, dessen Vorname ihm entfallen war, so dass er seiner Sekretärin, quasi schon im Gehen, sagte, sie möge doch in Gottes Namen diesen Irving reinschreiben. Auf der Suche nach dem Vornamen war die Sekretärin auf David Irving gestoßen, D kam vor J, sie trug dessen Namen in kompletter Unkenntnis der sich dahinter verbergenden Person in den Fragebogen ein, und das Unheil hatte seinen Lauf genommen. Die meisten Mitarbeiter im Institut sagten zwar den über sie herfallenden Medienvertretern, sie könnten sich das nicht vorstellen, allein deshalb nicht, weil Professor Gralssucher nie ein besonderes Interesse an Politik und Geschichte gezeigt habe, aber die Zeitungen zitierten die beiden anderen, die natürlich auch nicht zu Protokoll geben wollten, der Professor sei ein Neonazi-Sympathisant, jedoch von sich behaupteten, dass sie seit je am gralssucherischen Biologismus Anstoß genommen hätten. 

Schönbach, der die ganze Angelegenheit stark irritiert von seinem Münchner Büro aus verfolgt hatte, brach in ein schallendes Gelächter aus, als Gralssucher ihm am Telefon diesen Hergang schilderte. Das Lachen verging ihm allerdings, als er seinem Chefredakteur den Fall vortrug und um zwei Seiten Platz bat, um die kuriose Geschichte unters Volk zu bringen. 

»Ich traue der Sache nicht«, knurrte Rosentreter. 

Schönbach verstand nicht und tat dies mimisch überzeugend kund. 

»Lies doch bitte mal die Zeitungen, mein Bester«, empfahl der Chef, »da steht überall drin, was der Gralssucher für ein schlimmer Finger ist. Oder willst du mir weismachen, dass die alle spinnen?« 

»Absolut.« 

Rosentreter schüttelte sein Gorillahaupt. »Es können sich nicht alle irren.« 

»In der DDR haben auch alle dasselbe geschrieben, und am Ende war’s doch falsch.« 

»Wir sind hier aber nicht in der DDR.« 

»Genau, und um das zu demonstrieren, müssen wir die Story bringen.« 

»Wir müssen überhaupt nichts demonstrieren, wir sind kein politisches Demonstrations-Magazin, wir müssen die Leute unterhalten!« 

»Die Geschichte ist ja nun wirklich komisch.« 

»Ich finde sie eher gruslig«, erklärte Rosentreter. »So was kommt mir nicht ins Blatt!« 

»Wir können ihn doch jetzt nicht im Stich lassen, er war unser ständiger Interviewpartner!«, rief Schönbach verzweifelt. 

»Korrekt: Er war. Du hast mir ja nie gesagt, dass er ein Rassist ist.« 

»Der ist doch kein Rassist, was soll denn der Unsinn …« 

»Hör mal, Johannes, wir sind ein demokratisches Land mit freier Presse, nicht so wie deine DDR, und wenn hier jemand öffentlich Rassist genannt wird, dann ist da schon irgendwas dran, das kommt ja wohl kaum aus dem Nichts, oder? – Stefanie, bring mir einen Espresso! – Willst du auch einen?« 

Schönbach schüttelte den Kopf. Ihm war übel. 

»Also pass mal auf«, fuhr Rosentreter gönnerisch fort, »die Interviews waren wirklich witzig, und vielleicht ist er ja wirklich kein Rassist, aber du musst auch mal an unsere Reputation denken! Selbst wenn sich die Sache mit der Namensverwechslung so verhält, wie du sie darstellst, wird der Mann zurzeit öffentlich als Rassist und Ausländerfeind gehandelt, und so einen können wir weder in Schutz nehmen noch als ständigen Interviewpartner brauchen, oder?« 

Schönbach brachte nichts zustande als ein fassungsloses Kopfschütteln. 

»Wir haben ihn ja nicht so genannt«, sagte Rosentreter beschwörend. »Wenn die Angelegenheit aus der Welt ist, kannst du ihn wieder interviewen. Ich habe diese Gespräche gern gelesen, der ist ja kein Dummer.« 

Rosentreter war aufgestanden und kam um seinen Schreibtisch gelaufen. 

»Mensch, Johannes!«, rief er freundschaftlich und boxte seinem Reporter sachte in die Rippen. »Mach dir doch kein Problem daraus. Das ist Politik, und Politik ist scheiße und hinterfotzig, da mischen wir uns gar nicht erst ein.« 

»Ich hätte ein solches Maß an Feigheit und Charakterlosigkeit nicht für möglich gehalten«, sagte Schönbach leise, aber zitternd vor Zorn. 

»Ach was, Feigheit, Blödsinn, wenn du unbedingt darüber schreiben willst, dann schreib für sonst wen, ich erlaub’s dir, aber das ist keine Geschichte für uns. – Stefanie, wo bleibt der Espresso?!« 

Schönbach brauchte die Geschichte nicht schreiben, eine anderes Magazin brachte sie am folgenden Montag, ein Teil der Republik lachte sich schlapp, ein anderer Teil war sauer, der Sekretärin fiel ein Stein vom Herzen, und die meisten bekamen wie immer nichts mit. Während einige Zeitungen die Neonazi-Unterstellung halbherzig zurücknahmen, beharrten andere darauf, dass es sich mit der Namensverwechslung allenfalls so verhalten mochte, aber der Tatbestand bleibe, dass der Professor Ansichten geäußert habe, wie man sie aus jenen Kreisen kenne, wo der andere Irving geschätzt werde, und das dürfe man jetzt nicht einfach mit unter den Teppich kehren. So war Gralssuchers Ruf wiederhergestellt und zugleich nicht, aber immerhin so weit, dass Rosentreter gönnerisch die Wiederaufnahme der regelmäßigen Interviews genehmigte. 

Schönbach fuhr nach Murnau, und traf einen immer noch reichlich verstörten Professor an. 

»Der Urlaub hat überhaupt nichts gebracht«, klagte er, nachdem er Schönbach in sein Arbeitszimmer geführt hatte. 

»Der gesamte Effekt ist hier binnen kürzester Zeit zerstört worden. Hätte ich die Zeit doch gearbeitet! Man sollte sowieso nur arbeiten und sich nicht auf diese perverse Öffentlichkeit einlassen.« 

Schönbach nickte schuldbewusst. Gralssucher bot ihm einen Kaffee aus einer luftlandetauglich aussehenden Thermoskanne an, die auf seinem Schreibtisch stand. 

»Stellen Sie sich vor«, fuhr er fort, »ein einzelner Mensch würde sich so benehmen, wie dieses Land es im Großen tut. Man würde ihn doch unzweifelhaft unter psychiatrische Aufsicht stellen, oder?« 

Schönbach zuckte mit den Schultern. 

»Ich hätte Ihnen eigentlich am Telefon sagen sollen, dass Sie nicht herkommen brauchen, aber ich habe mich, offen gestanden, erst ein paar Minuten bevor Sie kamen, entschieden, nicht mehr für Zeitungen zu arbeiten. Tut mir leid.« [/tab][/tabs]

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