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Vertrauen in die Vertrauensfrage?

Vertrauen in die Vertrauensfrage?

Naturgemäß hat der Bundeskanzler eine zentrale Funktion im politischen System unseres Landes. Er ist es, der Minister ernennen und auch wieder entlassen kann. Letzteres haben wir erst kürzlich gesehen, als Bundeskanzler Olaf Scholz den Bundesfinanzminister Christian Lindner entließ und damit das Ende der Ampelkoalition einläutete. Der Kanzler ist es auch, der im Falle eines negativen Ausgangs einer Vertrauensfrage dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorschlagen kann. Dieses Recht hat niemand sonst. Fünfmal haben Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschlands bisher die Vertrauensfrage gestellt. Erstmals wurde 1966 ein „Vertrauensfrage-Ersuchen“ von der SPD-Fraktion eingebracht. Der damalige Kanzler Ludwig Erhard lehnte das Ersuchen aber ab. Danach wurde nie wieder ein solches Vertrauensfrage-Ersuchen gestellt.
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Naturgemäß hat der Bundeskanzler eine zentrale Funktion im politischen System unseres Landes. Er ist es, der Minister ernennen und auch wieder entlassen kann. Letzteres haben wir erst kürzlich gesehen, als Bundeskanzler Olaf Scholz den Bundesfinanzminister Christian Lindner entließ und damit das Ende der Ampelkoalition einläutete. Der Kanzler ist es auch, der im Falle eines negativen Ausgangs einer Vertrauensfrage dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorschlagen kann. Dieses Recht hat niemand sonst.

Fünfmal haben Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschlands bisher die Vertrauensfrage gestellt. Erstmals wurde 1966 ein „Vertrauensfrage-Ersuchen“ von der SPD-Fraktion eingebracht. Der damalige Kanzler Ludwig Erhard lehnte das Ersuchen aber ab. Danach wurde nie wieder ein solches Vertrauensfrage-Ersuchen gestellt.

Die fünf bisherigen Vertrauensfragen

1972 – Willy Brandt

Die erste Vertrauensfrage stellte am 20. September 1972 Willy Brandt. Die Niederlage wurde von der SPD-Fraktion bewußt herbeigeführt, denn die Mitglieder der Bundesregierung nahmen an der Abstimmung gar nicht teil. So fehlten die notwendigen Stimmen zur Mehrheit. Zuvor war ein konstruktives Mißtrauensvotum gegen Brandt knapp gescheitert. Der Kanzler konnte sich aber seiner Mehrheit nicht mehr sicher sein. Noch am Tag der Niederlage löste Bundespräsident Gustav Heinemann den Deutschen Bundestag auf. Die darauf folgende Bundestagswahl bestätigte Willy Brandt im Amt.

1982 – Helmut Schmidt

Die Sozial-Liberale Bundesregierung entzweite sich über den Bundeshaushalt und den NATO-Doppelbeschluß, der die Aufstellung von Atomraketen in Westeuropa – auch in Deutschland – vorsah. Zwar gewann Schmidt im Februar 1982 die Vertrauensfrage; dennoch zerbrach im September die Koalition endgültig und Schmidt wurde durch ein konstruktives Mißtrauensvotum gestürzt.

1982 – Helmut Kohl

Zwar wurde Kohl mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und den Stimmen der aus der Schmidt-Regierung ausgetretenen FDP-Abgeordneten zum Kanzler gewählt, aber Kohl wollte für seine Regierung mit der FDP eine Legitimation durch den Souverän – den Wähler – einholen. Also verlor man die Vertrauensfrage mit voller Absicht und führte so Neuwahlen herbei, die Kohl klar gewann.

2001 – Gerhard Schröder

Die Terroranschläge vom 11. September hatten auch Auswirkungen auf die deutsche Politik. Ende 2001 war es Gerhard Schröder, der das Mittel der Vertrauensfrage nutzte. Am 16. November 2001 verband er die Abstimmung über die deutsche Beteiligung am Afghanistan-Einsatz mit der Vertrauensfrage. Er gewann knapp mit 10 Stimmen Vorsprung. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion votierte gegen den verbundenen Antrag, obwohl sie eigentlich für den Bundeswehreinsatz am Hindukusch war. Dennoch reichte es für Schröder.

2005 – Gerhard Schröder

Erneut stellte Gerhard Schröder am 27. Juni die Vertrauensfrage. Die SPD hatte kurz zuvor die wichtige Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen verloren. Die letzte verbliebene rot-grüne Landesregierung wurde abgewählt. Schröder verlor die Vertrauensfrage im Bundestag und legte Bundespräsident Horst Köhler ein ganzes Dossier vor, welches seinen Vertrauensverlust im Deutschen Bundestag dokumentierte. Die darauf folgende Neuwahl verlor die SPD knapp und Angela Merkel wurde Bundeskanzlerin.

2024 – Olaf Scholz

Nun ist es Olaf Scholz, der das Instrument der Vertrauensfrage nutzt. Tatsächlich hat seine verbliebene Bundesregierung keine Mehrheit mehr im Deutschen Bundestag, nachdem die FDP nicht mehr Bestandteil der Regierung ist. Da sich keine anderen Mehrheiten für Scholz abzeichnen, mag die Vertrauensfrage also ein probates Mittel sein, um Neuwahlen zu ermöglichen, aber …

Erneute Debatte über die Vertrauensfrage

Natürlich muß es in einer Demokratie möglich sein, ein gewähltes Parlament auch wieder aufzulösen, wenn sich aus den Mehrheitsverhältnissen keine regierungsfähige Mehrheit identifizieren läßt. In unserem Grundgesetz ist eine Selbstauflösung des Bundestages nicht vorgesehen. Insofern bleiben eigentlich nur die Vertrauensfrage (Art. 68 GG, durch den Bundeskanzler) und das konstruktive Mißtrauensvotum (Art. 67 GG, durch das Parlament).

Was 2024 aber anders ist als zuvor, ist die Art und Weise, wie die Neuwahl des Bundestages herbeigeführt wird. Da geht doch der Noch-Kanzler zum Bundespräsidenten und kungelt den gesamten Neuwahl-Fahrplan einfach aus. So steht der Neuwahl-Termin schon lange fest, Wochen bevor die Vertrauensfrage überhaupt gestellt ist. Wir sehen die Bundeswahlleiterin im TV-Interview darüber philosophieren, daß der 23. Februar 2025 ein machbarer Termin wäre. Es sickert im Vorwege durch, welche Fraktionen wie abstimmen werden, welche sich zu enthalten haben. So verkommt der im Grundgesetz verankerte Prozeß zur Auflösung des Parlaments mit anschließender Neuwahl des Deutschen Bundestages zu einer Farce. Mit Vertrauen oder Nicht-Vertrauen hat das alles wenig zu tun. Der Abgeordnete entscheidet nach Parteiräson, nicht nach seinem Gewissen.

Die Architekten unseres Grundgesetzes haben den Prozess zur Herbeiführung von Neuwahlen vermutlich bewußt so komplex gestaltet, damit er nur im äußersten Notfall beschritten wird. Ein solcher Prozess verursacht einige Monate des parlamentarischen Stillstands und legt die Regierungsgeschäfte in dieser Zeit mehr oder weniger auf Eis. Zwar gibt es eine geschäftsführende Regierung, aber aus wahltaktischen Gründen wird in der Zeit bis zu einer Neuwahl erfahrungsgemäß in der Gesetzgebung nicht mehr viel passieren, bis eine neue Regierung im Amt und damit handlungsfähig ist. So kann z.B. der Bundeshaushalt 2025 nicht zeitnah verabschiedet werden.

Vielleicht haben die Autoren des Grundgesetzes auch an die vielen Mitarbeiter der Abgeordneten gedacht. Etwa 700 Abgeordnete haben im Durchschnitt vielleicht jeweils fünf Mitarbeiter. Daraus ergeben sich 3.500 Mitarbeiter, die ihr Leben so eingerichtet haben, daß sie für vier Jahre im Bundestag tätig sind, vielleicht von der Familie getrennt, vielleicht mit einer zusätzlichen Wohnung in der Hauptstadt, die sie für vier Jahre gemietet haben. Wenn sich die Legislaturperiode von vier auf drei Jahre reduziert, so kann das für den einen oder anderen Mitarbeiter schon finanzielle Probleme größeren Ausmaßes mit sich bringen. Die Arbeitsverträge enden unbarmherzig mit dem Ende der Legislaturperiode, unabhängig davon, wann das ist. Und nicht alle werden nach einer Neuwahl weiterbeschäftigt werden. Allein die Reduzierung des Bundestages von rund 700 auf 600 Abgeordnete wird demnach etwa 500 Arbeitsplätze in Berlin kosten.

Weiterführende Quellen:

https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/olaf-scholz-bundestag-vertrauensfrage-100.html

https://www.sueddeutsche.de/panorama/mit-wahlkampfrede-scholz-stellt-vertrauensfrage-li.3167717

https://de.wikipedia.org/wiki/Vertrauensfrage

Foto: stock.adobe.com – Wolfilser