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Es ist gerade einmal sechs Wochen her, daß wir an dieser Stelle einen Beitrag mit gleichlautender Überschrift veröffentlichten. Darin beschrieben wir die äußerst schwierige Situation, in der sich der VW-Konzern derzeit befindet. Vielleicht haben uns einige Leser belächelt wegen der markigen Worte, mit denen wir das aktuelle Dilemma von Deutschlands größtem Autobauer beschrieben. Spätestens seit Beginn dieser Woche dürfte allen klar sein, daß unsere Analyse leider ein Volltreffer war. Waren die jüngsten Verlautbarungen der Konzernleitung noch ziemlich nebulös, so ließen es nun der Aufsichtsrat und die IG Metall nicht an Deutlichkeit fehlen und skizzierten das wahre Ausmaß der bevorstehenden Abwrackung des Konzerns.
Drei von zehn PKW-Werken in Deutschland sollen geschlossen werden. Um genau zu sein: mindestens drei, was immer das heißen mag! Alle Mitarbeiter sollen eine GehaltsKÜRZUNG um 10 % hinnehmen müssen. Auch in den vielleicht sieben verbleibenden Werken soll es einen massiven Stellenabbau geben. Es soll massenhafte, betriebsbedingte Kündigungen geben. 30.000 der 120.000 Jobs in Deutschland sollen wegfallen. Das ist ein Viertel der gesamten Belegschaft in Deutschland!
Nun zur anderen Seite am Verhandlungstisch: 7 % Lohnerhöhung fordert die IG Metall. Kanzler Scholz läßt seinen Sprecher verkünden: VW möge bitte alle Standorte und damit die dortigen Werke und Jobs erhalten. Begründung: „… nämlich, dass mögliche falsche Managemententscheidungen aus der Vergangenheit nicht zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehen dürfen“.
Die Suche nach den Schuldigen – Schwarzer Peter auf höchster Ebene
Was hat das Management denn falsch gemacht – außer den Diesel-Abgasmanipulationen? Ja, vielleicht hat man anfangs das Thema E-Mobilität etwas verschlafen oder unterschätzt. Vielleicht hat man dann zu sehr im Kadavergehorsam gegenüber den staatlichen Klimazielen auf Elektrofahrzeuge gesetzt. Schließlich mußte man die EU-Vorgaben für den CO2-Ausstoß im Flotten-Durchschnitt einhalten, um Strafzahlungen zu vermeiden. Und dies geht mit E-Autos super, denn diese werden spannenderweise mit null Emissionen veranschlagt.
Vielleicht hat man auch die Verbraucher falsch eingeschätzt und nicht vorausgeahnt, daß diese überwiegend gar keine E-Autos fahren wollen und selbige anfangs hauptsächlich gekauft haben, um die staatlichen Fördergelder abzugreifen. Vielleicht hat man auch nicht voraussehen können, daß die staatlichen Zuschüsse für die E-Autos wegbrechen würden. Und vielleicht konnte man auch nicht im automobilen Kaffeesatz lesen, daß die chinesischen Autoproduzenten Europa mit viel preiswerteren, subventionierten Stromern aus dem Reich der Mitte geradezu fluten würden. Um Vorstandsmitglied im Volkswagen-Konzern zu werden, braucht es eine profunde Ausbildung inklusive Studium, eine fachliche Expertise, Erfahrung in der Branche und einen gewissen Killerinstinkt gegenüber Kollegen während des beruflichen Aufstiegs. Hellseherische Fähigkeiten sind unseres Wissens kein Bewerbungskriterium. Deshalb ist es völlig normal, daß Unternehmensentscheidungen der Vorstandsetage manchmal von der Realität eingeholt werden und sich im Nachhinein als suboptimal erweisen. Irren ist menschlich und kein Vergehen.
Das ist die perfide Welle …
Denken wir das Dilemma noch etwas weiter. Wenn VW Schnupfen hat, dann bekommen die Zulieferer eine schwere Grippe. Wenn VW wirklich Standorte schließen muß, dann wird das die Zulieferer schwer treffen. Sehr wahrscheinlich folgen auch dort Massenentlassungen und schlimmstenfalls Insolvenzen. Unglücklicherweise liegen die VW-Produktionsstandorte alle im ohnehin strukturschwächeren Norden und Osten Deutschlands. Ganze Regionen hängen von den Arbeitsplätzen bei VW und seinen Zulieferern ab, wie z.B. Emden, Kassel, Salzgitter, Wolfsburg oder Zwickau. Muß eines dieser Werke schließen, dann hat dies Auswirkungen auf Abertausende Familien der Region, die man sich heute noch gar nicht ausmalen mag.
Es gibt noch eine weitere Partei am Verhandlungstisch: das Land Niedersachsen. Die Landesregierung hat bei allen Unternehmensentscheidungen ein Vetorecht und möchte naturgemäß Arbeitsplätze und Standorte im eigenen Bundesland erhalten. Immerhin befinden sich sechs der zehn inländischen Standorte in Niedersachsen, inklusive des Nutzfahrzeugwerks in Hannover.
Für den Konzern in seiner Gesamtheit ist der Kahlschlag in Deutschland weniger dramatisch. Sukzessive hat der Konzern in der jüngeren Vergangenheit Werke in allen Teilen der Welt errichtet: gleich an fünf Standorten in China, in Indien, Nord- Mittel- und Südamerika – sogar in Südafrika. Europäische Produktionsstätten entstanden in Spanien, Portugal und in der Slowakei. Braucht man also noch eine Produktion mit den teuren und hinderlichen Produktionsbedingungen im Bürokratiemonster Deutschland? Der hiesige Absatzmarkt hat für VW längst an Bedeutung verloren.
Und bei all dieser Misere hat die IG Metall nun einen langen und harten Arbeitskampf angekündigt. Dieser beginnt genau jetzt. Natürlich sind die Forderungen der Arbeitnehmervertreter nachvollziehbar und verständlich. Man will, daß die Lohnerhöhungen die allgemeinen Preissteigerungen kompensieren. Man möchte den Lebensstandard halten und vor allem Arbeitsplatzsicherheit haben. Wer möchte das nicht? Andererseits muß man auch den Vorstand verstehen. Dieser hat zunächst einmal die Aufgabe, das Unternehmen überhaupt zu erhalten. Oder zumindest so viel wie möglich davon. Ein tragfähiger Kompromiss, der in dieser Krise allen Seiten gerecht werden könnte, ist nicht ansatzweise in Sicht.
Wir haben in der Redaktion überlegt, unter welcher Rubrik wir diesen Artikel veröffentlichen sollen. Wir haben uns letztlich für „Politische Bildung“ entschieden. An der derzeitigen Situation von VW offenbaren sich die Marktmechanismen so deutlich wie vielleicht niemals zuvor in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Die entstandenen strukturellen Probleme in Deutschland werden sich nicht auf VW beschränken. Andere Autohersteller werden von dem notwendigen Rückbau nicht verschont bleiben. Ebenso die vielen Zulieferer. Letztlich wird der kriselnde Absatz der Volksautomobile auch auf die Händler durchschlagen. Dieser Effekt wird noch dadurch verschärft, daß VW – wie schon Tesla – in den Direktvertrieb einsteigt. Zukünftig soll man sein E-Auto der wiederbelebten VW-Marke Scout direkt online konfigurieren und kaufen können. Damit will man die Rendite steigern, indem man sich die Händler-Marge selbst einverleibt.
Man wird an diesem Beispiel auch gut verfolgen können, wie die Bundesregierung mit der Situation umgeht, und wie eventuelle staatliche Programme zum Gegensteuern wirken. Wenn sich die Ampel denn auf stützende Hilfsmaßnahmen für die angezählte Automobilindustrie verständigen kann. Es wird einer riesigen, parteiübergreifenden Kraftanstrengung bedürfen, um diesen Karren wieder aus dem sprichwörtlichen Dreck zu ziehen. Diesmal reicht kein Placebo aus, der die Aufbewahrungspflichten für Akten von zehn auf acht Jahre verkürzt, wie jüngst vom Kabinett beschlossen. Industrieproduktion in Deutschland muß vielleicht ganz neu gedacht werden. Wie sagte es Roman Herzog vor 25 Jahren in seiner Berliner Rede so treffend? „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“. Damals schon ging es in der berühmten Rede des Bundespräsidenten um die Auswirkungen der Globalisierung. Diese ist auch heute, ein Viertel Jahrhundert später, immer noch das Thema. Die Ursache für das heutige Dilemma von VW ist nach wie vor die Globalisierung. Man weiß schon lange, daß Autos in anderen Teilen der Welt billiger produziert werden können. Nur sind diese Autos heute qualitativ praktisch gleichwertig zu den hierzulande hergestellten. Made in Germany ist nicht mehr DAS Siegel für Qualität, Innovation und Langlebigkeit auf der Welt. Diese Erkenntnis schmerzt. Aber je früher man sie verinnerlicht, desto eher kann man zu Lösungen und Wegen aus der Krise kommen. Aber vor allem muss man eines: WOLLEN. Die nächsten Wochen werden in jedem Fall spannend.
Weiterführende Quellen: